Drei Minuten für ein Titelblatt
Decken Sie diesen Text einen Moment ab und gehen Sie Ihrer ersten Intuition nach: Woher stammt dieses Titelbild, für welches Thema steht es? Insider/innen tippen zunächst auf die neue Fogal-Plakatserie, dann auf «Laufmasche», das Magazin für Kunst am Bein.
Weit gefehlt! Es handelt sich um ein Cover der Zeitschrift «Büro & Sekretariat», dem offiziellen Organ des Österreichischen Verbandes für Sekretariat und Büromanagement ÖSBM. 1962 gegründet, gilt die Organisation eher als konservativ und werttreu. Die Titelgeschichte bezieht sich denn auch nicht auf «Erotik am Arbeitsplatz», sondern auf «die ewig junge Büroklammer».
Mehr als neun Zentimeter Draht brauchte der Norweger Johan Vaaler nicht. Die verbog er 1900 (ein Jahr nach Matthew Schooleys Erstversuch und nahezu zeitgleich mit der Lancierung des Konaclip durch Cornelius Brosnan) zur ersten Büroklammer der Welt. Die simple Methode, Zettel aneinanderzuheften und unversehrt wieder zu trennen, feiert dieses Jahr Jubiläum.
100 Jahre Nützlichkeit: Für die einen ist die klassische Doppelschleife ein Symbol der Menschheitsgeschichte, ähnlich der Pfeilspitze aus Feuerstein oder dem Mikrochip. Für andere ist sie etwas, das sich vom mechanischen ins Computer-Zeitalter hinübergerettet hat ? nicht zuletzt wegen seiner multifunktionellen Einsatzmöglichkeiten (als Wurfge-schoss,Schmuckstück, Vorhanghaken, Pfeifenputzer oder Türsicherung einer Cessna).
Das Pièce de résistance sollte demnach zeitlos illustriert werden, auf den ersten Blick erkennbar und dennoch als Hingucker. Letzteres mag hier gelungen sein, wenn auch auf sonderbare Art. Denn: welcher Frau käme es in den Sinn
- Büroklammern so wertvoll zu finden, dass sie diese unbedingt einstecken muss;
- Drahtgebilde an einem Strumpf zu befestigen (wo sie doch nur einen Maschenriss provozieren würden[1]);
- hierfür die aufwändig präparierten Fingernägel aufs Spiel zu setzen;
- zu glauben, die Klammer fände auf diese Weise Halt, ohne Rutschen und Pieksen.
Ob die Redaktion damit ihre weltfremde, plakativ-naive Haltung zum Ausdruck bringen oder einfach mal das Genre «unfreiwillige Komik» ausprobieren wollte, sei dahingestellt. Jedenfalls hat sie sich im Motiv vergriffen. Der für die Werbung Schweiz zuständige Publizist, Erich Liebi, taxiert auf unsere Anfrage hin das Titelblatt als «nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallend». Es gehöre zu den redaktionell gestalteten Seiten … Die Antwort kam per E-Mail, ohne digitalisierte Büroklammer. Wir hätten diese ansonsten an den Chefredaktor weitergeleitet: für ein stichfestes Composing mit seinem Yorkshire-Terrier!
[1] obgleich die Nylons ursprünglich «No-run» ( = keine Laufmasche) hiessen.