Die Kunst Fehler zu machen
Juventus, Diplom-Ansprache vom 8. Juli 1999
(Zufthaus zur Meisen, Zürich)
Liebe Diplomandinnen, Liebe Diplomanden
Geschätzte Anwesende
Wann sind Sie zum letzten Mal gestolpert? Haben sich heute schon geirrt? Ist Ihnen letzthin ein Fehler unterlaufen?
Fehler! dieses Wort ist höchst unbeliebt. Heute, unmittelbar nach den Prüfungen, können Sie es möglicherweise kaum noch hören. Galt es doch, genau das zu nicht zu tun. Fehler heisst falsch, Fehler geben Abzüge, Fehler sind etwas, was es zu vermeiden gilt. Sie erinnern sich: Im Diktatheft wird meistens die Anzahl Fehler angestrichen, und am Schluss sorgsam zusammengezählt. Die Summe der falsch geschriebenen Wörter, der ausgelassenen Kommas oder Punkte ergibt die Note: Nicht etwa die Anzahl der richtigen Wörter und Satzzeichen! Das wäre ja auch eine Möglichkeit (und würde die Aufmerksamkeit auf das lenken, was als Ziel hinter dem Ganzen steht).
Die negative Fixierung auf Fehler führt zu einer eigentlichen Furcht vor Fehlern. Unangenehme Erlebnisse wie Ausgelacht werden, eine öffentliche Rüge oder der Patzer beim Bewerbungsgespräch tragen das ihre dazu bei. Solch kritische Momente prägen sich in unser Gedächtnis ein, sie stacheln uns an, Fehlern vorzubeugen, auszuschalten, aufzuholen, zu überdecken, zu kompensieren oder auszublenden.
Trotz der gesellschaftlich propagierten Null-Fehler-Kultur sind Fehler nicht so selten, wie wir das gerne hätten. Mittlerweile gibt es das Lexikon der populärsten Irrtümer der Welt. Es findet reissenden Absatz und zählt zu begehrtesten Nachschlagewerken in öffentlichen Bibliotheken.
Gleichwohl blenden wir Fehler – insbesondere die eigenen – gerne aus. Dieser Verdrängungseffekt ist um so fataler, als dass selbst Genies nicht vor Missgeschicken, Unaufmerksamkeiten und Fehlüberlegungen gefeit sind. Nicht selten handelt es sich um Rückschläge, die auf dem voreiligen Ausschliessen von Fehlern beruhen, im Sinne von: «Es wird schon alles richtig, was sollen wir uns da den Kopf über mögliche Pannen zerbrechen…»
Mit der Schilderung dreier aufsehenerregender Fälle aus der Städteplanung möchte ich Ihnen einerseits vor Augen führen, dass selbst international bekannte Architektinnen und Architekten nicht von Fehlern verschont bleiben, andererseits möchte ich Ihnen die Scheu vor dem Einberechnen und Eingestehen eigener Fehler nehmen.
Raymond Hull, ein bekannter Fehlerforscher, beobachtete anfangs der 70er Jahre eine in sich zusammenbrechende Autobahnbrücke, deren Stützpfeiler trotz mehrfacher Kontrollen letztlich falsch konstruiert waren. Die Statiker/innen hatten das Gewicht der überfahrenden Autos nicht einberechnet …
Die Inbetriebnahme von drei gigantischen Kühltürmen geriet in England zum Desaster: Jeder Turm hatte eine Million Dollar gekostet, aber die Kolosse waren nicht stabil genug. Ein kräftiger Windstoss genügte, um sie zu kippen.
Unvergessen ist die Frankfurter U-Bahn-Geschichte. Als die Nahverkehrsexpert/innen zum Ortstermin geladen waren, stellten sie mit Schrecken fest, dass 27 fabrikneue U-Bahn-Wagen ins neue, aber nicht ins alte Schienennetz passten. Die hoch angesetzten Türen stimmten nicht mit den niedrigen Perrons überein, beim Aussteigen mussten die Fahrgäste springen, zum Einsteigen erst Anlauf holen. Auf den Strecken in den Nördlichen Stadtteilen lagen die Gleise zudem so eng beieinander, dass ein Gegenverkehr unmöglich war.
«Planung ist die Ersetzung des Zufalls durch den Irrtum». Dieser Satz stammt aus dem Buch «Fehler richtig geplant – ein Ratgeber für kreative Fehlplaner/innen». Die vier Autoren haben Raumplanung studiert, heute arbeiten sie in anderen als den ursprünglich erlernten Berufen. Kreative Querdenker werden überall gebraucht. Raumplanerinnen übrigens auch …
«Planung ist die Ersetzung des Zufalls durch einen Irrtum». Diese Aussage führt vor Augen, dass wir dem Zufall schutzlos ausgeliefert sind, während wir als Planende die Möglichkeit (und die Chance) haben, Irrtümer und Fehler einzubeziehen: Mit dem Ziel, sie zu erkennen und zu reduzieren.
Mit der Zeit gelingt es, von der suggerierten Unfehlbarkeit abzurücken, aus Fehlern zu lernen, sie ins Gegenteil zu kehren und die gewonnenen Erkenntnisse ins nächste Projekt einfliessen zu lassen. Die Frankfurter jedenfalls messen jetzt immer zuerst die Gleisstrecken aus, bevor sie das Rollmaterial bestellen. Und sie setzen einen Testlauf mit den potentiellen Benützer/innen an.
Der Erfahrungsvorsprung nach einem groben Fauxpas ist unermesslich. So wie im Falle eines Ingenieurs, welcher bei der Fertigstellung der grossen Baseball-Hall in Houston feststellen musste, dass die gewählten Oberlichter zwar einen tollen optischen Effekt erzielen, die Halle jedoch unbespielbar machen. Es hat derart geblendet, dass die Spieler/innen hochfliegende Bälle gar nicht erst erkennen, geschweige denn erwischen konnten.
Fehler nerven, sie schmerzen, nagen am Ego und fordern es heraus! Fehler regen zum Nachdenken an; in einer Weise, wie wir es ansonsten nicht getan hätten. Sackgassen, Niederlagen und Scheitern prägen uns nachhaltiger als leicht zugefallene Erfolge. Zumal ein erster Fehlversuch auch der Weg zur Lösung weisen kann.
Fehler zu machen und dazu zu stehen, hilft Fehler kreativ einzusetzen. Anstatt darüber zu grübeln, weshalb wir Dinge tun, von denen wir wissen, dass sie zwar ungefährlich, aber auch unnütz sind, könnte die Frage lauten: Weshalb schrecken wir derart vor Fehlern zurück? Wenn sie doch tagtäglich geschehen und wir trotzdem weiterleben?? Behindert uns die Furcht vor Fehlern nicht zu sehr in unserem Handeln, so dass wir nur noch mehr Fehler provozieren? Klassische Denkfallen sind die Folge. Selbst kluge Köpfe verfangen sich darin[1].
Perfektionismus gehört zu diesen Fallstricken. Der Drang, in allem, was mann/frau tut, perfekt zu sein. Es klingt zunächst einleuchtend, und niemand bestreitet, dass es Sinn macht, hohe Massstäbe zu setzen. Perfektionismus wird jedoch heikel, wenn die Massstäbe so hoch sind, dass sie niemand erreichen kann. Das Streben, hundertprozentig perfekt zu sein, führt im schlimmsten Fall zu null Prozent Ergebnis: eine doppelte Verlustrechnung.
Oder die Vergleichssucht. Gegenüberstellen und Vergleichen ist eine verbreitete, oft auch hilfreiche Methode, um Unterschiede herauszuarbeiten. Viele Leute erschweren sich das Leben zusätzlich, indem sie negative Aspekte ins Zentrum stellen; zu sehr auf andere hören, die von spektakulären Misserfolgen berichten. Das ist äusserst entmutigend und entspricht selten der Realität.
Eine weitere Denkfalle ist das ewige «Was-ist-wenn». Die Gedanken kreisen unaufhörlich um Schwierigkeiten, Klippen und Hindernisse. Zu den realen Bedrohungen kommen Dinge und Umstände, die nicht existieren oder nur mit grösster Unwahrscheinlichkeit eintreten. Die Sorgen nehmen alsbald ein Ausmass an, dass die gesamte Person schwächt und ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.
Im Extremfall kommt es vor, dass selbst krisenerprobte Manager/innen plötzlich vom Klein-Hühnchen-Syndrom geschüttelt werden und sich verhalten wie das Kücken in einer bekannten amerikanischen Kindergeschichte. Das Hühnchen spaziert nichtsahnend durch die Gegend. Plötzlich fällt ein Ast vom Baum, direkt auf seinen Kopf. Klein-Hühnchen denkt sofort, dass der Himmel herunterfällt. Schreiend rennt es nach Hause, und wagt sich vorerst nicht mehr in die Welt hinaus.
Eine derart eingeschränkte Sicht führt garantiert zu Fehlentscheidungen. Dabei stand zu Beginn die Absicht, Fehler zu vermeiden.
«Ist der Fehler erst erkannt, wird die Sache interessant.» Fehler verhelfen zu Fortschritt, nur wenn nichts passiert, werden sie zum Bumerang! Zahlreiche Nebenprodukte der Weltraumforschung beweisen, dass Materialien mit einzigartigen Eigenschaften zumeist über Umwege entstehen.
Manchmal muss auch nachgeholfen werden. So haben diverse Strassenbauer/innen das Phänomen «der verlorenen Schaufel» erst auf Protest hin durchbrochen – und mittlerweile erfasst, dass es weder erklärbar noch ökonomisch ist, eine Hauptverkehrsstrasse mehrere Male hintereinander zu sperren, tiefe Löcher zu graben, diese wieder zuzuschütten, mit einer neuen Asphaltdecke zu überziehen und eine Woche später erneut aufzureissen. Es geht auch in einem Aufwisch!
Auf Kritik eingehen, Konflikte austragen, aus Fehlern die entsprechenden Schlüsse ziehen: Diese Eigenschaften machen den kreativen Fehlplaner/die kreative Fehlplanerin aus. Es müssen nicht gleich zusammenkrachende Bauten, hunderte Betroffene, Millionenlöcher in der Staatskasse und Ähnliches sein, sondern lediglich – oder gerade eben – der Mut zur Denkpause, zum Umkehren, zum Einhalt.
So wie die Frankfurter Stadtverwaltung, welche eine Kleinanzeige in der New Yorks Times aufgab, die U-Bahn-Waggons nach Übersee verkaufte und ihren Ort um eine Anekdote reicher machte.
Deshalb, und zum Schluss: Üben Sie sich in der Kunst, Fehler zu machen. So oft es nur geht, so mühevoll es ist, so ungewohnt es auch sein mag! Machen Sie Fehler! Und machen Sie etwas, aus Ihren Fehlern!!
[1] vgl. Freemann Arthur & DeWolf Rose. 1996. Die 10 dümmsten Fehler kluger Leute, Hamburg, Serie Piper