Die Kunst des Nichtstuns
Juventus, Diplom-Ansprache vom 15. Juli 2005
Liebe Diplomandinnen, Liebe Diplomanden Geschätzte Anwesende
Nichtstun? Als Sie diesen Titel hörten, haben Sie sicherlich gestutzt? «Hat die eine Ahnung!», denken Sie als Diplomandinnen, weil Sie in den letzten Wochen alles andere getan haben als Faulenzen. «Was kommt ihr in den Sinn?» , finden Sie als Eltern, weil «Laisser faire» selten eine optimale Prüfungsvorbereitung darstellt. «Typisch Psychologin», meinen Sie als Lehrkräfte, weil «Herumlungern» sicher nicht zu einem erfolgreichen Lehrgang gehört. Aber was heisst eigentlich erfolgreiches Nichtstun? In einer Welt in welcher Hektik und Hetze zum Normalen zählen, Tag und Nacht verschmilzt, Zeit immer zu knapp ist. Bedeutet dieses Nichtstun alles fallenlassen oder nur ein bisschen? Gar nichts anpacken, einfach weniger? und wenn, dann erst noch das langsamer? Bedeutet es komplett aussteigen, für eine Weile kürzer treten oder einfach Abstand gewinnen? Regelmässig, konsequent, bewusst??
Eine Nationalfonds-Studie wollte es genau wissen. Sie ging dem Zusammenhang zwischen Beruf und Freizeit nach. Zuerst fragte sie verschiedenste Leute, was für sie persönlich erstrebenswert sei. Der Schlüssel zum Glück, quasi. Die häufigste Antwort lautete: ein lockerer Job und viel Freizeit. Anschliessend wurde genauer sondiert, die persönlichen Erfahrungen derselben Personen untersucht. Ergebnis: Nicht die erste spontane Aussage, nicht das «Easy Going» führt zu Zufriedenheit. Sondern etwas ganz Anderes. Ein gesundes Verhältnis von Anstrengung und Ausruhen, Aktivierung und Ausgleich, An- und Entspannung. Über das beste Lebensgefühl berichten diejenigen Menschen, die einer spannenden Berufstätigkeit nachgehen. Und in ihrer Freizeit Stress ab- bzw. sich selbst wieder aufbauen, zum Beispiel durch ein Hobby. Sie fühlen sich bestätigt, werden gefordert und gefördert. Zwischendurch können Sie abschalten, etwas Gegensätzliches oder schlicht etwas für sich tun. Dieses «Nichtstun» umfasst Sport, Reisen, Zusammensein mit Freunden. Auch mal Ausschlafen, dösen, Gemächlichkeit. Aber nicht ausschliesslich! Und wenn, dann zur notwendigen Erholung!
Der Erholungseffekt ist es auch, welcher zur offiziellen Einrichtung von Ferien geführt hat. Der Staat hat dies als Recht festgeschrieben, die Wirtschaft als gewinnbringende Massnahme erkannt: Ausgeruht schafft es sich nicht nur länger, sondern auch besser (sprich produktiver, kreativer, motivierter). Unternehmer bekennen mittlerweile öffentlich: «Das Leben ist mehr als Chrampfe, die Sorge um die eigene Gesundheit nicht nur Pflicht, sondern auch der Allgemeinheit dienlich». Wir befinden uns in einer Kirche. Die Bibel, eine der Grundlagen der christlichen Religion, verkündet in der Schöpfungsgeschichte: «Am siebten Tag sollst du ruhen». Auch in anderen Religionen dienen Sonn- und Feiertage dem Ausruhen. Klöster und Abteien bieten die Möglichkeit für einen kurzen Rückzug. Idee: zu sich selber finden, in Einfachheit, Abgeschiedenheit und Kargheit. Der Tagesablauf richtet sich nach der Natur, einem Thema oder Ritual. Fernab von Leistungsstreben, Aktienindex und Handy.
Umgekehrt exponieren sich verschiedene Kirchenvertreter ausserhalb der schützenden Mauern. Fordern uns dazu auf, Mut zu zeigen, Mut auszusteigen. Nicht gleichzusetzen mit «alles verwerfen». Im Gegenteil: Beabsichtigt ist traditionellen Werten nachzugehen, hierfür Distanz zu nehmen. Aus einer Welt, wo alles machbar scheint. Kunstlicht die Grenzen zwischen Tag und Nacht aufhebt, rund um die Uhr gearbeitet, gegessen und kommuniziert wird. Non-Stop etwas abgehen muss, die Augen nur noch für den Sekundenschlaf (oder ein Nickerchen) geschlossen werden. Passives Konsumieren vorherrscht, Träume in die Werbung, Visionen ins Weltall transferiert werden. Und selbst Zeit Geld bedeutet.
Zugegeben: Nicht allen gelingt es, das plötzliche Ausbrechen. Viele vermissen die Gebrauchsanweisung fürs Ausklinken. Sie suchen verzweifelt nach dem Bremsknopf (oder Notausgang). Plötzliche Stille erscheint als Loch, ein leerer Terminkalender als Bedrohung. Sie stürzen sich auf tausend Dinge. Erstellen lange Listen, unglaubliche Pläne, anspruchsvolle Routen. Stress total! Danach folgen Erschöpfung, Melancholie, ja Ratlosigkeit. Erst zuletzt wagen es einige, loszulassen. Verschüttetes auszugraben, in die Sterne zu gucken, zum Kern ihrer Wünsche und Sehnsüchte vorzustossen. Was sie in den Alltag mitnehmen ist dieses Leuchten. Gekoppelt mit der Erkenntnis: Auftanken tut gut! Neue Energie erhält jung. Ein klarer Geist schärft den Blick. Wache Sinne hören Zwischentöne. Freiheit macht achtsam, zugewandt. Ein volles Herz schliesslich führt zu Unbeschwertheit, Leichtigkeit. Einer Leichtigkeit, die nicht in der Agenda steht. Einer Leichtigkeit, die Schub nach vorne gibt. Einer Leichtigkeit die jetzt – trotz Überschwang – nicht vergisst, wer alles am Erreichen eines Ziels beteiligt ist.
Ich denke dabei speziell an Ihr Diplom. Diesem fiebern nicht nur Sie als Absolvent/innen entgegen, sondern Eltern, Angehörige und Freunde. Lehrkräfte, Praktikumsbetreuer oder die Schulleitung. Ihnen möchte ich an dieser Stelle Respekt und Anerkennung aussprechen, zusammen mit einem Riesen-Kompliment. Für den Einsatz jenseits des «Nichtstuns» . Daneben gibts auch einen Wehrmutstropfen: Nicht alle Kandidat/innen haben es auf Anhieb geschafft, einige werden es ein zweites Mal versuchen. Ihnen drücke ich ganz fest die Daumen!
Zum Schluss bitte ich Sie, nicht nur nichts zu tun, sondern auch etwas «Unvernünftiges»: nämlich Erfolge feiern. Wie heute! Er ist vorbei, der Prüfungskrampf. Geniessen Sie, dass Ihnen etwas Wichtiges gelungen ist! Feiern Sie es, feiern Sie sich selbst – und die freie Zeit. Teilen Sie Ihre Freude mit dem Umfeld. Lassen Sie es sich gut gehen. Im süssen oder aktiven Nichtstun, getragen vom Hier und Jetzt, der Faszination des Augenblicks. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft viel Freude, Spass und Begeisterung. Und immer wieder Gelegenheit für einen «Ausstieg auf Zeit». Zuerst aber einen schönen Abend!!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.