Die Krux mit der Stellvertretung
Vom Ersatzmann bis zur Bevollmächtigten
Wie heisst es doch so toll in Sekretariatshandbüchern: «In einer Organisation sollte jede Stelle auch eine offiziell deklarierte Stellvertretung haben. Die Stellvertretung übernimmt für eine bestimmte Zeit die Stelle des/der offiziellen Stelleninhaber/in. Stellvertretung bedeutet somit grundsätzlich die Delegation von Aufgaben, Verantwortung und Kompetenzen an eine andere Person [1]»?
Häufig wird – gerade im Administrativwesen – diese effektive Stellvertretung nicht durchgezogen. Entweder erledigt die entsprechende Person gleich den Job der Chefin/des Chefs (ohne deren Gehalt und Aufstiegsaussichten) oder die Abschiebetaktik kommt zur Anwendung. Letztere besteht in der Verteilung kleiner, zumeist mühseliger Aufgaben. Im besten Fall kosten sie einfach Zeit und Nerven, als «worst case» entpuppen sie sich dann, wenn ein lodernder Konflikt aufbricht.
Kann das Ganze eingerenkt werden, hat mann/frau Glück gehabt und die gutgelaunten Führungsverantwortlichen spendieren einen Kaffee. Läuft es schief, ist der/die stellvertretend Ausführende im Nu alleinverantwortlich.
Echte Stellvertretung
Uneingeschränkte, echte Stellvertretung bedeutet
- Offizielles – und nicht nur im Stellenbeschrieb – klar deklariertes Abtreten von Erfolg, Wissen und Macht (Vertretungsmacht geben)
- Bevollmächtigung auch in Rechtsgeschäften -> Handlungs- oder Generalvollmacht übertragen
- Zuordnung von ganzen Aufgabenbereichen inkl. Know-how und Ressourcen
- Ausgeglichene Verteilung von Aufgaben, Verantwortung und Kompetenzen
Die Stelle wird nicht geteilt, sondern übergeben. Diese Art der «SteV» kommt relativ selten vor (am häufigsten bei längeren, vorhersehbarenAbwesenheiten einzelner Personen), bedingt sie doch einiges an Veränderungsbereitschaft und organisatorischen Vorkehrungen. Faktisch entsteht nicht selten eineneue Stelle.
Eingeschränkte Stellvertretung
Eher anzutreffen ist die eingeschränkte echte oder unechte Stellvertretung. Erstere zeichnet sich durch einen klaren, zum vornherein deklarierten – sachlich und zeitlich eingegrenzten, oft situativ oder vom Geschäftsgang her bedingten – Auftrag aus. Die Stellvertretung handelt im Namen und Sinn des/der Stelleninhaber/in, übernimmt jedoch die Verantwortung für die in eigener Regie getroffenen Entscheide.
Unechte Stellvertretung [2]
Hier handelt ein «Ersatzmann» nicht etwa wie im Fussball nach den eigenen Vorstellungen oder innerhalb der Mannschaftstaktik, bestenfalls noch unter seinem Namen. Er findet auf seinem Pult fremde Dossiers vor und springt von einem Fach- zum anderen Führungsbereich. Wann und ob er die Aufträge zurückgeben kann, weiss er nicht. Je nach Grad der Zufriedenheit, Zufall oder Einflüsse dritter Art verschwindet der Aktenberg wieder bzw. wird ihm (bei zuviel, zu raschem Erfolg) aus der Hand gerissen.
Nicht besser ergeht es der Platzhalterin, welche bestenfalls darüber befinden darf, ob X sofort informiert werden muss oder eine Entscheidung bis zur Rückkehr der/des Abwesenden hinausgeschoben werden soll. Damit hat es sich bezüglich Entscheidungsbefugnis.
Verhinderte Stellvertretung
Mangelndes Delegationsvermögen, überperfekte Arbeitserfüllung oder auch Geltungsdrang verleiten Vorgesetzte dazu, «News» zu hüten, wenig an Wissen preis zu geben, Führungsaufgaben an sich zu reissen und selbstverständlich keine Stellvertretung zu bezeichnen (sie sind ja unersetzlich…). Ohne sie geht nichts. Sie leiden, wie es Peter Schwarz eindringlich beschreibt, «unter chronischer Überlastung, die weder von den Aufgaben noch von der Qualifikation der Mitarbeitenden her gerechtfertigt ist» . Wissen zu horten statt mitzuteilen, hat zur Konsequenz, dass
- die Lern- und Entwicklungsenergie auf ein Minimum schrumpft
- Risiken, Unvorhersehbarkeiten aussen vor bleiben (Konzentration auf eine Person)
- die Betriebssicht hintenan steht
- nützliche Informationen unter den Tisch fallen
- eine allfällige – vom System aufgedrängte – Stellvertretung klein gehalten wird.
Im Aufzug nach oben
Anders macht es da die clevere Chefsekretärin, welche mit ihrem Vorgesetzten stetig eine Stufe höher geklettert ist und sich den gleichgebliebenen Job versilbern lässt (bei einer Frau genügend selten…). 120’000 Franken erhält sie im Jahr: Nicht nur für das Führen der Agenda, das Abwimmeln von Leuten oder die Reservation von Tisch im Bel Air, sondern weil sie einer ganzen Führungsriege Bedeutung verschafft. Die Sache funktioniert bei konstanter Spitze und glattem Geschäftsgang. Ein Wechsel kippt sie aus ihrer vorteilhaften Lage. Wenn der frühere CEO nicht die Hand aufhebt, findet sie sich mit einem Abgangszeugnis als einfache Schreibkraft wieder.
Erleichternde Faktoren
Wo klappt es dann, wenn es doch geht? Üblich und ohne grosse Absprachen praktiziert wird eine Vertretung zwischen Kolleginnen des gleichen Aufgabenbereichs. Die Übernahme, Überbrückung und Rückgabe geschieht ohne Schwierigkeiten ? vorausgesetzt, die dafür nötige Zeit steht zur Verfügung. Oft ähnelt die Angelegenheit jedoch einem Staffellauf, wo einer der anderen den Stab zuwirft.
Komplizierter gestaltet es sich bei Stellen, die in ihrer Art nur einmal vorkommen oder spezielle Kenntnisse voraussetzen. Allerdings fahren auch diese Leute in Urlaub oder besuchen mehrtägige Weiterbildungen.
Unternehmenskultur
Entscheidender dürfte vielmehr die Unternehmenskultur sein:
- Machtpyramide oder Machtkollektiv
- Bindung von Entscheidungsbefugnis an hierarchische Positionen
- Existenz mehrerer Einflussstrukturen (formelle oder informelle/verdeckte Wege)
- graue Eminenzen (wer, wo?)
- Teilzeitarbeit, Job-sharing auf verschiedenen Hierarchiestufen
- Stellenwert der ständigen Präsenz und Erreichbarkeit (Kontrollmentalität).
Und da wundert man sich, worauf Fehlentscheide renommierter Unternehmen gründen: Einsames Führen ist nicht nur der Vernetzung abträglich, es verstellt auch den Blick für die Realität. Die selbstabhebende Dynamik beschränkt sich oft darauf, am Status quo festzuhalten. Angebrachter wären eine kritische Selbsteinschätzung, Delegieren und Distanz. Sich selbst überflüssig zu machen, bildet übrigens das wahre Risiko einer guten Stellvertretung!
[1] Denise Müller (Hrsg.). Sekretariats-Handbuch/Teil 6. WEKA Verlag AG, 1994
[2] vgl. Peter Schwarz. Management in Nonprofit-Organisationen. Paul Haupt Verlag, 1992